„Die Totengräber. Der letzte Winter der Weimarer Republik“ – Eine Rezension

Heute gibt es wieder einmal eine Rezension auf meinem Blog. Es geht um das Buch „Die Totengräber. Der letzte Winter der Weimarer Republik“ von Rüdiger Barth und Hauke Friederichs. Erschienen im S. Fischer-Verlag.
Das Thema des rund 400 Seiten starken Buches ist das Ende der Weimarer Republik, das chronologisch Tag für Tag vom 17. November 1932 bis zum 30. Januar 1933 – dem Tag als Hitler Reichskanzler wurde – erzählt wird.

Bemerkenswert ist der Aufbau des Buches, der sich offensichtlich an einen Kinofilm anlehnt. So werden zu Beginn die Hauptdarsteller, die Totengräber der Weimarer Republik, kurz mit Foto vorgestellt. Es folgt ein zweiseitiger Vorspann, der die Ausgangssituation skizziert. Danach werden Tag für Tag die Ereignisse geschildert, die aus Sicht der Verfasser zum Ende der Demokratie geführt haben. Dieser eigentliche „Film“ ist in fünf Abschnitte gegliedert: Der Sturz, Der Plan, Stille Nacht, Im Strudel und An die Macht. Dies geschieht aber nicht erzählerisch, sondern in Form von Szenen, die entweder ganz oder auf Grundlage von Quellen entwickelt werden. In Schnitten, wie man sie aus dem Kino kennt, wird ein Panorama des jeweiligen Tages entworfen, das dem Leser einen Einblick in die Vielschichtigkeit der Ereignisse gibt und ihn in die Dynamik dieser Tage mit hinein nimmt. Eben liest man noch unter dem Datum Donnerstag, 8. Dezember von einem Treffen des Reichspräsidenten mit christlichen Gewerkschaftern, dann folgt ein Bericht der Journalistin Bella Fromm von einem Essen beim ägyptischen Botschafter in Berlin und den dort geäußerten Einschätzungen der Gäste in Bezug auf eine Kanzlerschaft Hitlers. Schnitt: Hitler besucht das Ehepaar Goebbels. Neuer Schnitt: Nachts entwickelt sich eine Krisenkonferenz der NSDAP-Spitzen, weil es zu innerparteilichen Auseinandersetzungen kommt. Hitlers einziger echter Gegenspieler in der Partei, Gregor Strasser, hat mit einem Paukenschlag alle Ämter niedergelegt und will ins Ausland gehen. Die Partei ist in Aufruhr, heißt es. Der Eintrag endet: „‚Wenn die Partei zerfällt, mache ich in drei Minuten Schluss‘, sagt Hitler zu Goebbels. Und Joseph Goebbels? Der leidet. Nur zwei Stunden Schlaf findet er an diesem Tag.“ (S. 129–131)

An diesem willkürlich herausgegriffenen Beispiel werden Stärken und Schwächen des Buches zugleich deutlich. Faszinierend gelingt es den beiden Autoren, den Leser in die (nicht nur) politischen Prozesse jener Zeit mit hinein zu nehmen. Auf den ersten Seiten werden die wesentlichen Protagonisten eingeführt, auf deren Tagebücher, Lebensbeschreibungen, Autobiografien die Verfasser zurück greifen. Da ist die Jouranlisten Bella Fromm. Zu ihrer Person erfährt man bei ihrem ersten Auftreten am 18. November 1931: „Bella Fromm, die Frau mit dem koketten Mund und den dunklen Augenbrauen, ist einundvierzig und Gesellschaftsreporterin der Vossischen Zeitung. […] Journalistin ist Fromm mehr aus Not denn aus Leidenschaft geworden. Sie stammt aus dem jüdischen Großbürgertum, ihre Eltern betreiben einen gutgehenden internationalen Handel mit Weinen von Main und Mosel.“ Zweimal geschieden musste sie sich nach dem Ersten Weltkrieg eine Arbeit suchen, die ihren gehobenen Lebensstandard finanzierte. „Da sie in der Hauptstadt zur besseren Gesellschaft gehörte, begann sie, über deren Leben zu schreiben. Seit 1928 ist sie Kolumnistin der Vossischen und Mitarbeiterin der B. Z. und anderer Blätter aus dem Hause Ullstein.“ (S. 26 f.)
Im Abspann, der sich an den geschilderten Hauptteil des Buches anschließt, werden alle genannten Personen noch einmal mit einer kurzen Beschreibung ihres weiteren Lebenslaufs aufgeführt. So heißt es dort über Bella Fromm: Sie „erhält 1934 Berufsverbot. Vier Jahre später verlässt sie Deutschland und siedelt in die USA über. Sie stirbt 1972, mit einundachtzig Jahren, in New York.“ (S. 384).
Im Kapitel Quellen und Literatur, das dem Abspann folgt, findet sich dann die Publikation, aus der die Verfasser ihre Informationen über Bella Fromm und die von ihr geschilderten Ereignisse 1932/33 haben. Es ist die 1993 auf deutsch erschienene Ausgabe ihres bereits 1942 in den USA verfassten Werks „Blood and Banquets“ mit dem deutschen Titel „Als Hitler mir die Hand küsste“.

Der Leser muss also mit dem Buch von Barth und Friederichs arbeiten, wenn er Themen vertiefen möchte. Und hier wünscht sich der Historiker etwas mehr Distanz der Verfasser zu ihren Quellen. Denn Fromm schrieb ihr Buch über ihre Berliner Erlebnisse, als sie sich als Emigrantin in den USA ihren Lebensunterhalt mit Tätigkeiten wie Nähen und Kellnern finanzierte. Wikipedia verrät, dass sie auf Ratschlag eines Freundes ihre Geschichte in Form eines Tagebuches aufschreiben solle. Quellenkritisch müsste also bedacht werden, dass die Form eines Tagebuches eben noch kein Tagebuch ist, wenn die Erinnerungen mit zehnjährigem Abstand niedergeschrieben wurden. In dieser langen Zeit verschwimmen Erinnerungen und spätere Ereignisse wie Schilderungen dritter vermischen sich mit den realen Erlebnissen. Hinzu kommt, dass die Motivation zur Abfassung dieser Memoiren eine pekuniäre war, was nicht gegen die Verfasserin spricht, was der Leser aber bei der Beurteilung nicht außer Acht lassen darf. Der Quellenwert ihres Buches wurde in der Fachwelt daher auch in Zweifel gezogen (vgl. Turner, Jr., Henry Ashby, Two Dubious Third Reich Diaries. In: Central European History 33, 3, 2000, S. 415–422).
Dem Quellen- und Literatur-Verzeichnis ist eine kurze Einleitung vorangestellt, in der die Verfasser ihr Vorgehen bei der Auswahl der Quellen erläutern. Leider ist es eine sehr kurze Einleitung, die zum Teil weitere Fragen aufwirft. Auch unterscheidet das Verzeichnis tatsächlich nicht zwischen Quellen und Literatur. Verwundert stellt man auch das Fehlen durchaus nahe liegender Titel fest, so z. B. das Droste Geschichtskalendarium. Chronik deutscher Zeitgeschichte. Politik – Wirtschaft – Kultur von Manfred Overesch und Friedrich Wilhelm Saal (hier relevant Band 1: Die Weimarer Republik, Düsseldorf: Droste, 1982 und Band 2.1: Das Dritte Reich. 1933-1939, Düsseldorf: Droste, 1982; auch als digitale Ausgabe erschienen: Manfred Overesch, Friedrich Wilhelm Saal, Deutsche Geschichte von Tag zu Tag 1918 – 1949, Berlin: Directmedia 2000, Digitale Bibliothek Band 39), das ebenfalls Tag für Tag die Ereignisse jener Zeit abzubilden versucht und gut zum Vergleich und zur Ergänzung zur parallelen Lektüre herangezogen werden kann.

Es folgt ganz im Stile eines Film-Projekt ein Making-of. Die Verfasser ziehen ein persönliches Fazit über das Buchprojekt und über die Endphase der Weimarer Republik. Eine zweiseitige Danksagung schließt sich an und eine Chronik des behandelten Zeitraums ergänzt das Werk.
Das Arbeiten mit dem Buch wird durch ein abschließendes Personenregister erleichtert, das es ermöglicht, sozusagen die Auftritte der Akteure gezielt zu suchen. Dies bietet weitere reizvolle Zugänge zu den Geschehnissen und dem Buch. Man kann es natürlich chronologisch von vorne bis hinten lesen. Man kann dann aber auch gezielt das Auftreten, Handeln oder nur Teilhaben bestimmter Personen nachvollziehen. Schließlich bietet es sich an, sich im Register auf die Suche zu begeben, welche Personen denn überhaupt auftauchen und ggf. auch nicht. Hier stellen sich dann wieder quellenkritische Fragen an die Verfasser, die sie leider im Making-of nicht oder nur unzureichend beantworten. Welche Quellen wurden herangezogen, welche nicht? Entspricht die durch diese Auswahl getroffene Gewichtung der Personen ihrer wirklichen Bedeutung? Die am häufigsten auftauchenden Namen wie Hindenburg, Hitler oder Goebbels werden im Personenverzeichnis aus Gründen der Handhabbarkeit ausgelassen. Dass Goebbels so vorrangig in Erscheinung tritt, mag aber nicht nur seiner prominenten Rolle in diesem Drama geschuldet sein, sondern auch mit seinen edierten Tagebüchern (Goebbels, Joseph. Die Tagebücher. Band 2/III: Oktober 1932 – März 1934. Bearbeitet von Angela Hermann, München 2006) zu tun haben. Die alte Weisheit „Wer schreibt, der bleibt“ sollte bedacht sein, denn je besser ediert das Quellenmaterial ist, je leichter es zugänglich ist, desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass es verwendet wird.
Ebenfalls sehr hilfreich für die Begleitung der Lektüre und wenn man so will für das Arbeiten mit dem Buch ist die Karte Berlin im Winter 1932/33, die vorne und hinten die Innenseiten des Einbandes füllen und dem Leser eine räumliche Orientierung geben.

Leider ist das Arbeiten dann doch nicht immer so einfach. Will man beispielsweise die Quelle hinzuziehen, die den vielen Einträgen des amerikanischen Journalisten Abraham Plotkin zugrunde liegt, der 1932/33 Deutschland bereiste und seine Eindrücke in einem Tagebuch festgehalten hat, so wird man im Literaturverzeichnis nicht sofort fündig. Sein Tagebuch wurde posthum von Catherine Collump und Bruno Groppo im Jahr 2008 veröffentlich und steht, bibliografisch völlig korrekt, unter „C“ wie Collump verzeichnet. Der interessierte Leser muss also theoretisch das gesamte Literaturverzeichnis nach einem Titel absuchen, der den Namen Plotkin enthält. Dies ist umso bedauerlicher, als die Verfasser laut Personenregister in 44 z. T. mehrseitigen Einträgen auf die Tagebücher Plotkins zurück gegriffen haben.

Dennoch ist das Buch sehr gelungen. Die Atmosphäre dieser spannungsreichen Zeit wird gut eingefangen und dem Leser vermittelt. Wie in einem echten Film mag dies an manchen Stellen auf Kosten der historischen Genauigkeit und Distanz gehen, aber die Autoren erheben nicht den Anspruch, ein weiteres geschichtswissenschaftliches Werk der bereits vorhanden Vielzahl hinzuzufügen.

Kann man Rüdiger Barth und Hauke Friederichs Faktenhuberei vorwerfen, also das sinnfreie ansammeln von Fakten und Tatsachen, ohne eine zielführende Fragestellung und Einordnung? Ich denke nicht, denn ihr Ziel ist es, so formulieren sie im Making-Of, „mit den Mitteln der dokumentarischen Montage […] die Menschen selbst zu Wort kommen zu lassen, wenn irgend möglich in ihre Gedanken hineinzuschlüpfen, ohne wissende Kommentare der Nachgeborenen. Ein Drama, das aus sich selbst, aus dem Moment heraus, erzählt.“ (S. 398) Dass eine solche Methodik immer höchst subjektiv ist, versteht sich von selbst. Das Drama dieser Monate dem Leser vor Augen zu führen, gelingt aber hervorragend.
Ergänzend könnte man dem interessierten Leser das bereits erwähnte Werk von Overesch/Saal empfehlen. Und als Fortsetzung bietet sich das (nicht kompilierte) Tagebuch von Victor Klemperer an: Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1931 – 1945, 2 Bde, Berlin 2. Aufl. 1995 (bzw. in einer handlicheren Form als Auswahl als SPIEGEL-Edition Band 23). Dies um so mehr, als die Klemperer-Tagebücher tatsächlich verfilmt wurden.

Trotz der genannten Einschränkungen und kritischen Anmerkungen sind „Die Totengräber“ ein empfehlenswertes Buch, um sich ein Bild von den letzten Tagen der Weimarer Republik zu machen. Den Verfassern ist völlig recht zu geben, wenn sie das Making-of mit der Feststellung schließen: „Die Totengräber hätten nicht siegen müssen.“

Barth, Rüdiger; Friederichs, Hauke, Die Totengräber. Der letzte Winter der Weimarer Republik. Frankfurt am Main 2018, 409 Seiten, 24 Euro (gebundene Ausgabe; ISBN: 978-3103973259), 19,99 Euro (Ebook).

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