Von Gott-Krähen, Falsch-Sängerinnen und Fake-News – Gedanken zu Monika Marons Roman „Munin oder Chaos im Kopf“

Rezensionen finden sich eher selten auf meinem Blog. Diesmal habe ich mich aber an einer versucht. Ich wurde angefragt, ob ich nicht eine Besprechung des Romans „Munin oder Chaos im Kopf“ von Monika Maron auf meinem Blog veröffentlichen möchte. Es handelt sich dabei um ein literarisches, kein historisches Werk. Allerdings spielt im Kontext des Buches der Dreißigjährige Krieg eine Rolle, so dass ein historischer Bezugspunkt gegeben war. Aus Neugierde habe ich dieser Bitte entsprochen und möchte gleich betonen, dass es sich hierbei um keine „Gefälligkeitsrezension“ handelt. Außer dem Rezensionsexemplar des Buches habe ich keinen Vorteil daraus bezogen. Meine Betrachtung geht auch über den Umfang und den Charakter einer Rezension hinaus, kann und will ich mir doch einige bewertende Äußerungen nicht verkneifen.

Nachdem ich das Buch gelesen und diesen Text verfasst hatte, suchte ich im Netz weitere Rezensionen und fand – es überraschte mich nicht – eine Vielzahl von Beiträgen über Marons Werk. Selbst im Literarischen Quartett, der ZDF-Büchertalkshow, wurde das Buch besprochen (ZDF, 2. März 2018). Diese sind nicht in meine Beurteilung eingeflossen. Ich werde ggf. in einem eigenen Beitrag darauf noch eingehen.

Worum geht es also in dem Buch?

Eine freiberufliche Journalistin aus Berlin, Mina Wolf, erhält den Auftrag, einen ausführlichen Artikel über den Dreißigjährigen Krieg für eine Festschrift einer westfälischen Kleinstadt zu verfassen, die ihr tausendjähriges Bestehen feiern möchte.

Im Verlauf des Romans versucht die Ich-Erzählerin sich in das Thema einzuarbeiten, wird dabei aber immer wieder durch eine Frau in der Nachbarschaft gestört, die tagaus-tagein auf dem Balkon steht und lauthals Arien singt. Dieser noch dazu eher schlechte Dauergesang belästigt alle Anwohner der Straße, die sich auf vielfältige Weise gegen die Sängerin zu wehren versuchen. Da diese aber als nicht zurechnungsfähig eingestuft wird und juristisch unter Vormundschaft gestellt ist, bleiben alle Versuche, etwas gegen sie zu unternehmen, erfolglos. Eine Anwohnerversammlung führt zum Zerwürfnis der Teilnehmer. Die Bewohner der Altbauwohnungen stammen aus dem gehobenen Bildungsbürgertum und bringen ein gewisses Verständnis für die nervige Sängerin auf, die Mieter der Neubauten der Straße fordern drastische Maßnahmen gegen die Frau. Während der Versammlung geraten beide Parteien aneinander, in dessen Folge es zu Ausschreitungen gegeneinander kommt. Reifen werden zerstochen, Autos brennen. In einem eher ruhigen, bürgerlichen Umfeld entwickelt sich Chaos in Köpfen und Taten.

Die Journalistin versucht sich möglichst aus diesen Auseinandersetzungen heraus zu halten, entgeht dem störenden Gesang, in dem sie nachts arbeitet und tagsüber bei geschlossenen Fenstern zu schlafen versucht. Der sich zunehmend verschlechternden Stimmung in ihrer Umgebung, wachsendem Hass und Aggressivität kann sie sich aber nicht entziehen. Bei ihrer nächtlichen Arbeit begegnet ihr eine einbeinige Krähe, dessen Vertrauen sie nach und nach gewinnt. Zu ihrer Überraschung kann die Krähe sprechen und offenbart sich ihr nach kurzer Zeit als „Gott“. Zwischen der Journalistin und der Gott-Krähe, der sie den Namen „Munin“ gibt nach einem der beiden Raben des germanischen Gottes Odin, entspinnt sich ein Diskurs über Krieg und Frieden und das Wesen des Menschen.

Irritiert über diese Begegnungen und Gespräche sucht Mina Wolf den Austausch mit verschiedenen Freunden, in dem sie auch die Vorgänge in der Straße reflektiert.

Ganz beiläufig erfährt Mina Wolf, dass in ihrer Straße die Spannungen einen neuen Höhepunkt erreicht hatten, als eine Frau beinahe vergewaltigt und ihr Hund erstochen worden war.

„Auf dem schmalen Weg zwischen der Grünanlage auf der einen und dem Kindergarten mit dem großen Spielplatz auf der anderen Seite, etwas abgelegen von Wohnhäusern, hätten zwei Männer, von der Frau als südländische Typen beschrieben, sie zu Boden gezerrt und mit einem Messer bedroht.“ (S. 207)

Das im Verlauf der Handlung stets wachsende Bedrohungsgefühl in der gutbürgerlichen Berliner Straße wird hier direkt mit dem Flüchtlingsthema verknüpft, indem Monika Maron wiederum sehr beiläufig ein paar Zeilen später erwähnt:

„Und eine der beiden Frauen sagte, diesen Weg würde sie im Dunkeln nie gehen, schon gar nicht, seit neuerdings diese Leute – sie machte eine kleine Pause und blickte vielsagend von einem zum anderen – in der Nähe untergebracht seien. Lieber mache sie einen Umweg.“ (S. 208)

In dieser dumpfen, angst- und hasserfüllten Atmosphäre kommt die Sängerin bei einem Polizeieinsatz durch einen Unfall ums Leben, woraus sich eine heftige Diskussion in den sozialen Medien über die Verantwortung der Polizei bei diesem Vorfall entwickelt.

Schließlich beendet Mina Wolf ihre Abhandlung über den Dreißigjährigen Krieg, schickt sie ihrem Auftraggeber, bekommt aber – und damit endet das Buch – von diesem die Mitteilung, dass auf eine Veröffentlichung verzichtet wird, da sie „doch zu pessimistisch und düster erscheine.“ (S. 222) Ihr Honorar erhalte sie selbstverständlich wie abgesprochen.

Der Dreißigjährige Krieg im Roman

Parallel zu der Romanhandlung, dem „Straßenkrieg“ zwischen den Bewohnern untereinander und gegen die Sängerin, bedenkt die Journalistin ihre Erkenntnisse über den Dreißigjährigen Krieg und setzt diese in Beziehung zur gegenwärtigen politischen und gesellschaftlichen Lage. Daher bietet es sich für den Historiker an, diese Gedankengänge näher zu betrachten.

Sie verwendet als fachliche Grundlage das Buch von Cicely V. Wedgwood, Der Dreißigjährige Krieg (Wedgwood, Cicely V.; Girschick, A. G., Der Dreißigjährige Krieg. Hamburg genehmigte Lizenzausg 2011). Dieses Buch entstand im Jahr 1938, wurde 1967 ins Deutsche übersetzt. Der Spiegel lobte beim Erscheinen der deutschen Ausgabe, das Werk sei „farbiger als alles, was deutsche Historiker über den großen Krieg geschrieben haben.“ Die Ich-Erzählerin hatte das Buch auch auf eine Empfehlung des renommierten Historikers Sebastian Haffners ausgewählt, der es „als die immer noch beste Monographie zu diesem Thema bezeichnet hatte.“ Dieser Hinweis findet sich im Wikipedia-Artikel zu Cicely Veronica Wedgwood ohne weitere Quellenangabe. Seine Anerkennung für Wedgwoods Arbeit – im weiteren Verlauf des Buches spricht die Ich-Erzählerin nur noch knapp von Cicely – drückt allerdings auch der Spiegel-Artikel aus, in dem zitiert wir:

„‚Mit Bestürzung‘ erkannte Sebastian Haffner anhand des Wedgwood‐Buches ‚in dem Deutschland des Dreißigjährigen Krieges das Deutschland von heute wieder‘.“ (Schöner, knapper, klüger. Dreissigjähriger Krieg. 30.10.1967. In: Der Spiegel Ausgabe 45/1967, 30.10.1967, S. 190–194.)

Diese Sicht liegt dem ganzen Maron-Roman zu grunde: die Charakterisierung der jetzigen Situation im Deutschland des Jahres 2017 als einer Vorkriegszeit.

Im Roman werden immer wieder Parallelen der Jahre vor 1618 und heute erwähnt. So weist die Ich-Erzählerin auf die hohe Zahl der protestantischen Einwanderer in das relativ liberale deutsche Reich des Augsburger Religionsfriedens, was beinahe eine Verdoppelung der Bevölkerungszahl zwischen 1550 und 1618 zur Folge gehabt habe, wobei es gleichzeitig zu klimatisch bedingten Hungersnöten kam. Die Verfasserin sinniert darüber:

„Vielleicht faszinierte mich die Vorkriegszeit vor allem, weil sie sich bei unscharfer Betrachtung als grobe Vorlage für die Gegenwart darstellte, und sich in Begriffen beschreiben ließ, die ich täglich in den Zeitungen lesen konnte: Klimawandel, Wassermangel, Hunger, Verdoppelung der Bevölkerung in fünfzig oder sogar dreißig Jahren, und die Religionen, natürlich die Religionen. […] Schilderungen aus der Zeit vor Ausbruch des Krieges könnten, tauschte man die Akteure aus, so ähnlich auch heute zu vermelden sein.“ (S. 30)

Später schreibt sie:

„In jedem Aufsatz, in jedem Cicely-Kapitel fand ich Parallelen zu unserer Zeit, zu unserer Vorkriegszeit: die kreuz und quer verlaufenden Fronten und Interessen, die religiös verbrämten Herrschaftskämpfe, wechselnde und undurchschaubare Bündnisse. Und diese anarchische Grausamkeit, die plötzlich wieder in unsere befriedete Welt eindrang.“ (S. 56)

Damit ist der Grundtenor gelegt: Wir leben heute in einer Vorkriegszeit und die Symptome dieses Zeitalters erfährt die Ich-Erzählerin in den Geschehnissen in ihrer Straße.

Eine zweite für ihren Aufsatz wichtige Quelle ist die Person des Landsknechts Peter Hagendorf, über den Mina Wolf in einer Internetrecherche gestolpert war. Im Verlauf des Buches erwähnt sie immer wieder Episoden aus dem Leben dieser historischen Persönlichkeit, den wir aus seinen Tagebuchaufzeichnungen kennen. Unser Wissen darüber ist noch relativ jung, denn die Tagebücher wurden erst 1988 im Handschriftenverzeichnis der Preußischen Staatsbibliothek in Berlin entdeckt. Es ist die verdienstvolle Arbeit von Jan Peters, den anonymen Verfasser des Tagebuchs identifiziert zu haben. Er hat das Tagebuch publiziert (Hagendorf, Peter; Peters, Jan (Hrsg.), Peter Hagendorf. Tagebuch eines Söldners aus dem Dreißigjährigen Krieg. Herrschaft und soziale Systeme in der frühen Neuzeit. 14, Göttingen [Neuaufl.] 2012.).

Mit dem Verweis auf Hagendorf gelingt es, über die abstrakten politischen und militärischen Vorgänge des Krieges hinaus einen biografischen Zugang zu dieser Epoche zu entwickeln.

Eine weitere Parallele entdeckt Mina Wolf (oder Monika Maron) in dem „Artikel eines Wissenschaftlers […], der die Gefahr gegenwärtiger Kriege vor allem in den überzähligen Söhnen armer, dafür bevölkerungsreicher Länder sah. Diese jungen Männer, obendrein sexuell frustriert, weil ohne berufliche Zukunft nicht heiratsfähig, würden wie Dynamit in einer Gesellschaft wirken, in der sie sich erobern müssten, was ihnen verwehrt sei. […] In Europa, schrieb der Professor, habe vom 16. bis zum frühen 20. Jahrhundert eine ähnliche Situation geherrscht.“ (S. 86–87) Diese „Youth Bulge“ bezeichnete Theorie geht zurück auf den Amerikaner Gary Fuller, der sie 1995 in einer Analyse der Lage im Irak für die CIA entwickelt hat. In Deutschland wurde sie von Gunnar Heinsohn aufgegriffen und weiterentwickelt (Heinsohn, Gunnar, Söhne und Weltmacht. Terror im Aufstieg und Fall der Nationen. Zürich 8. Aufl. 2006.).

Mina Wolf komprimiert diesen Bezug von Vergangenheit und Gegenwart, von Dreißigjährigem Krieg und derzeitigen Flüchtlingsströmen in dem Satz:

„Peter, Mohammed, Hussein – alles arme Hagendorfe, dachte ich.“ (S. 87)

Das Leben Hagendorfs beinhaltet auch die „Magdeburger Hochzeit“, eines der dramatischsten Ereignisse des Dreißigjährigen Krieges, als 1631 kaiserliche Truppen unter den Generälen Tilly und Pappenheim die Stadt eroberten und verwüsteten. Peter Hagendorf war als Soldat daran beteiligt und schildert sie auch in seinem Tagebuch. Er wurde dort schwer verwundet.

Für Monika Maron ist Magdeburg das Bindeglied zwischen Vergangenheit und Gegenwart, lässt sie doch Mina Wolf Bezüge zu ihrer eigenen Familiengeschichte und zum Thema Nationalstolz entdecken.

Eine dritte Quelle erscheint in dem Roman, die die Grundlage für die Gespräche der Ich-Erzählerin und der Krähe bildet: Zwei Werke von Annette von Droste-Hülshoff. In dem Epos „Die Schlacht im Loener Bruch 1623“ thematisiert sie die Niederlage des Christian von Braunschweig, der mit seinem protestantischen Heer bei Stadtlohn von der katholischen Liga unter Tilly geschlagen worden war (im Internet abrufbar unter http://www.lwl.org/kultur-download/droste/Web-Text-Schlacht.pdf). Dieser Christian von Braunschweig ist auch Thema des Gedichts „Die Krähen“ (1844), was dann offenbar die Grundlage für die Gott-Krähe Munin darstellt (im Internet abrufbar unter http://gutenberg.spiegel.de/buch/gedichte-1844-2844/22).

Die Gegenüberstellung des Dreißigjährigen Kriegs und der Jetztzeit ist natürlich reizvoll, weil man in der Tat gewisse Parallelen erkennen kann. Eine hat Monika Maron allerdings nicht erwähnt. Ich denke an die Durchdringung der spätmittelalterlichen und vor allem frühneuzeitlichen mitteleuropäischen Gesellschaft mit dem Gefühl der Unsicherheit und Angst. Jean Delumeau hat dies ausführlich in seinem Werk „Angst im Abendland. Die Geschichte kollektiver Ängste im Europa des 14. bis 18. Jahrhunderts“ beschrieben (Delumeau, Jean, Angst im Abendland. Die Geschichte kollektiver Ängste im Europa des 14. bis 18. Jahrhunderts. Rowohlts Enzyklopädie Kulturen und Ideen. 503, Reinbek bei Hamburg 1989.). Diese gesellschaftliche Angst, die alles kollektive Handeln beeinflusst hat, scheint mir eine bedeutende Parallele zu unserer derzeitigen gesellschaftlichen Situation, in der zunehmende Teile der Bevölkerung sich von einem unscharfen Angstgefühl bestimmen lassen. Genau dies beschreibt Maron ja auch sehr gekonnt in ihrem Roman, verpasst aber die Gelegenheit, hier den vielleicht entscheidenden Bezug zu dem Dreißigjährigen Krieg und seinen gesellschaftlichen Voraussetzungen aufzuzeigen. Fragen nach den Ursachen kollektiver Ängste, wie man ihnen begegnen kann, wer sie schürt und von ihnen profitiert und vor allem: wie man sie überwinden kann, hätten in der Tat einen Gegenwartsbezug von Geschichte vermittelt. Aber dies lag wohl nicht im Sinne von Monika Maron, die in ihrem Werk doch selbst auf der Klaviatur der Ängste spielt und diese schürt.

Eine fragwürdige Ethik

Erschreckend fallen die ungeschönt sozialdarwinistischen Einstellungen auf, die das Buch durchziehen. Vor allem der Gott-Vogel Munin hält diese Sicht der fehlerhaften Menschheit vor. Gegen eine überalternde Gesellschaft, die die Kräfte der Jungen mit der Pflege der Alten überfordern wird, stellt Munin den Satz:

„Sterben lassen, was nicht leben kann. So jedenfalls machen wir es.“ (S. 114)

Mina Wolfs Einwand „Ihr seid Tiere.“ Begegnet der Vogel mit einem schlichten „Ihr auch.“ Worauf die Ich-Erzählerin nur noch zu antworten weiß: „Nein. Doch. Natürlich. Aber anders, andere Tiere.“

Diese sozialdarwinistische Weltsicht kommt immer wieder beiläufig zum Vorschein, wenn Mina Wolf sich beispielsweise an eine Kindheitsgeschichte erinnert:

„Dass eine Horde Spatzen einen kranken Artgenossen getötet haben sollte, nur weil er bei mir, einem Menschen, Zuflucht gefunden hatte, blieb mir als eine Lehre fürs Leben, wenn ich auch ihren Sinn nicht verstand.“ (S. 49)

Aber wie lautet diese Lehre? Hilf nicht den Kranken und kümmere dich nicht um Wesen einer anderen Art – beides geht nicht gut aus?

Auf der vorletzten Seite, im letzten Gespräch der beiden wird diese Sichtweise nochmals hervorgehoben:

„Das Lachen vergeht uns gerade, seit sie das Genom entschlüsselt haben und wir wissen, dass sogar die Maus und der Mensch zu neunundneunzig Prozent genetisch übereinstimmen. Besonders für die Gottgläubigen muss das ein Schock sein. Denn wenn der Mensch Gottes Ebenbild ist, dann müsste ja auch Gott zu neunundneunzig Prozent eine Maus sein oder ein Affe oder sogar ein Biber. Dann ist alles Gott.“ (S. 221)

Hier liegt dann letztlich der Grund, warum der Dreißigjährige Krieg und die Gegenwart einander so ähnlich sin: Weil die Menschen damals wie heute Tiere sind, unfähig zu einer moralischen Läuterung. Oder wie es die Ich-Erzählerin ausdrückt:

„Munins Behauptung, die Menschen seien für den Frieden einfach nicht begabt, spukte mir immer noch im Kopf herum. Eigentlich war sie das Fazit dessen, was ich bei Cicely und meiner sonstigen Lektüre zum Dreißigjährigen Krieg gefunden und was in mir die bedrohliche Anhnung, auch wir lebten wieder in einer Vorkriegszeit, heraufbeschworen hatte.“ (S. 119)

Aus ihrer politischen Haltung macht die Verfasserin kein wirkliches Hehl. Immer wieder streut sie deutliche Aussagen in die Dialoge des Buches. So hört Mina Wolf in einem Café das Gespräch zweier Lehrerinnen über das Gender-Thema und Sexualkunde im Unterricht und äußert aus diesem Anlass ihre eigene Haltung in klaren Worten. Sie spricht von „genderspezifischer Sprachverhunzung“ und „Genderscheiße“ (diesen Ausdruck verwendet sie sogar zweimal; S. 75).

Von Flüchtlingsabschiebungen werden geradezu grotesk falsche Zahlen als Tatsachen hingestellt: „Ich hatte am Morgen gerade in der Zeitung gelesen,“ lässt Maron ihre Protagonistin vermelden, „dass man unter massivem Protest der linken Bewegung achtzehn von den Millionen junger Männern, die man zuvor ins Land gelassen hatte, nun wieder in ihre Heimat befördert hatte, achtzehn von einer Million.“ (S. 208–209) Tatsächlich wurden 2015 20.888 Menschen abgeschoben, 2016 25.375 und 2017 23.966, wie man leicht im Internet nachlesen kann (z. B. hier bei der Bundeszentrale für Politische Bildung: Bundeszentrale für politische Bildung 2018. Zahlen zu Asyl in Deutschland. Infografiken zu Asylgesuchen, Asylanträgen, Asylentscheidungen und Abschiebungen. Online verfügbar unter https://www.bpb.de/gesellschaft/migration/flucht/218788/zahlen-zu-asyl-in-deutschland#Abschiebungen, zuletzt aktualisiert am 14.3.2018. (Mögliche Grundlage für diese „Meldung“ mag die Abschiebung von 18 Afghanen am 22. Februar 2017 gewesen sein. Die Welt meldete „18 Afghanen wurden am Mittwoch mit der dritten Sammelrückführung von München nach Kabul geflogen, im vergangenen Jahr waren es insgesamt 67, in den Jahren zuvor jeweils sogar nur neun.“ (18 Menschen sitzen im Flieger nach Afghanistan. 22.02.2017. In: Die Welt 22.02.2017.) Auf Welt-online wird ein Video von der Abschiebung eingefügt, das in der Unterschrift mit dem Hinweis auf Protesten versehen ist. Der Tenor dieser Zeitungsmeldung passt zur Tendenz der Stelle im Roman, wobei letzterer den Sachverhalt aber völlig falsch darstellt.)

Die „linke Bewegung“ kommt bei Monika Maron generell nicht gut weg. Sie erscheint immer als ungerechtfertigte Protestierer. So heißt es im Zusammenhang mit dem Tod der Sängerin:

„Über die Sängerin wurde nicht mehr berichtet, als dass sie eine verwirrte Person war, für deren unglücklichen Unfalltod die Polizeibeamten aber in keiner Weise verantwortlich waren, da sie sich gegen den Angriff der Frau nicht einmal zur Wehr gesetzt hatten, sondern ihm nur ausgewichen waren. Trotzdem twitterte eine bekannte Politikerin einer Oppositionspartei, es wäre die Aufgabe der Polizei gewesen, die verwirrte Person zu schützen und nicht sich selbst, was allerdings auf allgemeine Empörung stieß.“ (S. 212)

Noch eine Beobachtung am Rande:

Die Autorin scheint eine gewisse Affinität zum Onlinehändler Amazon zu besitzen, erwähnt sie ihn doch mehrfach als Einkaufsquelle der Lektüre, die Mina Wolf für ihre Recherche sich zulegt. Auch den amazoneigenen Ebook-Reader Kindle nutzt sie so häufig, dass es mindestens dreimal in dem Buch erwähnt wird.

Zum Schluss

Ich könnte jetzt sagen, dass ich mich schwer tue mit einer Beurteilung des Buches. Denn Marons Werk hat zweifelsohne seine Stärken, so vor allem die Darstellung einer verunsicherten bürgerlichen Gesellschaft, die sich in zunehmender Gereiztheit befindet und sich bei den kleinsten Anlässen von Grundstrukturen des demoktratischen, friedfertigen Zusammenlebens entfernt.

Es gibt spirituelle Impulse, die durchaus beachtlich sind, wenn Mina Wolf am Ende nach einer langen Zeit der Selbstzweifel, ob ihre Gespärche mit der Krähe echt oder nur eingebildet seien, zu dem Fazit gelangt:

„Mit einer Krähe sprechen ist schön, hatte Rosa gesagt, und dass ich nicht verrückt sei, sondern mir eine neue Welt erschlossen hätte.“ (S. 220)

Und zweifelsohne ist das Buch flüssig und gut lesbar, nie langweilig.

Erschreckend tritt aber dem Leser die offensichtliche Übernahme fremdenfeindlicher Ressentiments durch die Autorin entgegen. Die unverfrorene Falschdarstellung eines Sachverhalts wie die tatsächliche Zahl der Abschiebungen erreicht leider das Niveau von fake-news.

Die sozialdarwinistischen Tendenzen, die unwidersprochen in dem Roman vom Gott-Vogel Munin verbreitet werden, lassen letztlich für diese neu erschlossene Welt der Mina Wolf nichts Gutes ahnen.

Monika Maron, Munin oder Chaos im Kopf. Frankfurt am Main 2018 (S. Fischer-Verlag), 220 Seiten, 20 Euro (geb. Ausgabe), 16,99 Euro (Ebook).

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